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Gin-Chan
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zInternet  Gins Ecke: Story und Storywelten - narrative Strukturen in Overwatch

(Anmerkung des Autors: Dieser Beitrag ist Teil einer unregelmäßig veröffentlichten Kolumne und repräsentiert ausschließlich die Meinung des Autors.)


Früher war alles einfacher. Man hat ein Spiel gekauft, die Konsole gestartet und auf Start gedrückt. Darauf folgte eine Intro-Sequenz, in der der Protagonist des Spiels und der Grundkonflikt der Handlung etabliert wurde. Ohne Umschweife wurde man ins erste Level geworfen, durfte sich durch ein paar Horden gelinde gefährlicher Gegner kämpfen und wurde mit der nächsten Cutscene belohnt. Das ging dann so weiter bis zum Endboss und zum Abschlussfilmchen, das wahlweise das Happy End oder das Setup für Teil 2 beinhaltete. Danach die Credits: Story vorbei, danke für's Spielen, lautet die Botschaft. Man kann zwar ins New Game+ einsteigen, in dem die Gegner ein paar Upgrades bekommen, aber an der abgeschlossenen Story ändert das nichts.

Im Laufe der Zeit hat sich dieser strikte Ablauf jedoch geändert: Von Entscheidungsmöglichkeiten, die zu unterschiedlichen Enden führen, über zusätzliche Inhalte in Add-Ons bis hin zu der Fortsetzung der Handlung in anderen Medien sind die ingame-Universen deutlich weniger linear und unabänderlich geworden. Einen besonderen Platz in dieser Entwicklung nimmt Blizzards Overwatch ein, bei dem Spielinhalt und Handlung gänzlich voneinander gelöst sind. Dieses Phänomen eröffnet interessante Möglichkeiten hinsichtlich der Erzählweise und Interaktivität der Spielwelt, welche ich in dieser Kolumne untersuchen möchte.



“Tell me, why are we doing this again?“
„You know, you really shouldn't think so hard about these things …“
Diese augenzwinkernde Antwort gibt Uther im Tutorial von Heroes of the Storm, dem MOBA von Blizzard, in dem jeweils zehn Spieler in die Rollen von Helden aus Diablo, World of Warcraft und Overwatch schlüpfen. Der Hinweis ist eindeutig: In Heroes geht es um's Gameplay, erwartet keine Handlung. Den Storyautor, der rechtfertigen kann, warum ein Space Marine und ein Heavy Metal Rindvieh gegen einen Cyborg-Ninja und einen glorifizierten Frosch kämpfen, möchte ich auch erst mal sehen.

In Overwatch gibt es das selbe Problem: In jeder Partie des Multiplayer-Spiels können die Spieler frei aus den mittlerweile 24 verschiedenen Charakteren wählen. Dabei kommt es unvermeidlich zu Konstellation, die sich in Hinblick auf die in der Welt von Overwatch vorkommenden Fraktionen und Beziehungen nur schwerlich erklären lassen: Warum kämpft Tracer mit und nicht gegen Widowmaker? Warum liefern sich Pharah und Ana einen erbitterten Luft-Boden-Kampf? Und warum gibt es plötzlich zwei Reinhardts? Die Antwort ist einfach: Die Schlachten, die im Multiplayer ausgefochten werden, gehören nicht zum offiziellen Kanon – d.h., sie sind nicht Teil der offiziell bestätigten Geschehnisse in der fiktiven Welt von Overwatch.

Doch im Gegensatz zu Heroes of the Storm hat Overwatch eine umfangreiche Story: Jeder der spielbaren Charaktere hat eine Herkunft, eine Motivation, kurz: eine eigene Geschichte. Es gibt Fraktionen, eine Zeitleiste von Auseinandersetzungen, Bündnissen und Ereignissen, die die Welt von Overwatch mit Leben und Inhalt füllen. Aber Moment: Overwatch ist ein reines Multiplayer-Spiel, eine Singleplayer-Kampagne sucht man vergebens. Wo also kommt die Story her?

Die Antwort ist einfach: Der Kanon von Overwatch ergibt sich aus externen Medien, also den animierten Kurzfilmen, den Comics und sogar den Informationen auf der Website, die von Blizzard im Laufe der Zeit veröffentlicht wurden. Um diesen Sprung in der narrativen Struktur zu verstehen, müssen wir zuerst den Begriff des 'Kanons' genauer unter die Lupe nehmen.




Der Kanon

Der Kanon beschreibt den Anteil der Medien und Inhalte zu einem Franchise, die vom Rechteinhaber offiziell als 'wahr' anerkannt werden; d.h., diese Inhalte sind Teil der offiziellen Version der Handlung und Welt des Franchises. Traditionell war die Einteilung relativ simpel. Alles, was vom Rechteinhaber (bzw. Publisher) an Informationen und Inhalten veröffentlicht wurde, wurde als Kanon akzeptiert. Die Einteilung in kanonische und nicht kanonische Inhalte diente vor allem dem Zweck, Fan-Kreationen wie Fan-Fictions vom Kanon auszuschließen und somit eine Kategorisierung in 'erfundene' und 'wahre' Geschehnisse zu ermöglichen (die Ironie einer solchen Einteilung in Bezug auf eine fiktive Welt ist hier nicht weiter zu beachten).

So einfach ist die Einteilung aber nicht mehr. Z.B. könnte in jedem Call of Duty Spiel lediglich der Singleplayer als Kanon bezeichnet werden, der Status vom Multiplayer als kanonisches Dokument ist schon deutlich fraglicher. Somit können also auch offizielle, lizenzierte Inhalte als nicht kanonisch gelten. Das bedeutendste Beispiel hierfür ist die Übernahme des Star Wars-Franchises durch Disney, die eine umfassende Neuverhandlung des Kanons zur Folge hatte: Um inhaltliche Konflikte und Widersprüche der neuen Batterie von Inhalten (insbesondere der neuen Filme) mit dem bestehenden Sammelsurium an Comics, Videospielen und Büchern zu vermeiden, wurden diese kurzerhand aus dem Kanon gestrichen. Zu diesem Zeitpunkt galten nur noch die sechs Spielfilme (Episoden I – VI) und die Star Wars: Clone Wars Serie sowie der zugehörige animierte Film als Kanon. Das alte erweiterte Universum (Expanded Universe) wurde zu „Legenden“ deklariert. Dies war insofern eine elegante Lösung, als die alten Inhalte nicht durch die Bank als nicht-kanonisch erklärt wurden, sondern vielmehr als unzuverlässige Berichte, die sich so ereignet haben könnten. Somit konnten Konflikte mit neuen Inhalten vermieden werden, ohne den bestehenden Star Wars Fans allzu kräftig gegen das Schienbein zu treten.

Aber was hat dies mit Overwatch zu tun? Zwei Faktoren interessieren mich in dieser Hinsicht, auf die ich im Folgenden eingehen möchte: Einerseits die Tatsache, dass das Spiel an sich nahezu keine kanonisch relevanten Geschehnisse beinhaltet und der Kanon sich zum Großteil aus externen Medien speist, sowie die daraus resultierende veränderte Dynamik der Spielwelt. Andererseits eine gewisse Durchlässigkeit des Overwatch-Universums, die neue Möglichkeiten hinsichtlich Interaktivität und Anteilnahme der Spieler-Community eröffnet.



Die offene Storywelt

Als Blizzard-Fan und Overwatch-Enthusiast der ersten Stunde (d.h.: dem ersten Trailer) habe ich die Entwicklung des Spiels und der dazugehörigen Welt seit 2014 eingehend verfolgt (wer argumentieren möchte, dass echte Fans natürlich schon damals Tränen um Project Titan vergossen haben, möge sich die Frage stellen, ob es nicht wichtigere Dinge im Leben gibt). Zu Anfang bestand diese Welt aus nicht viel mehr als ein paar spärlichen Infos in Videoform und einem Arsenal von Heldenportraits auf der offiziellen Website. Im Ankündigungstrailer wurden wir kurz mit der omnic crisis – dem Krieg der intelligenten Roboter gegen die Menschheit – vertraut gemacht, sowie der in dieser Krise gegründeten Taskforce Overwatch, die dazu beitrug, die Ordnung wiederherzustellen. 20 Jahre später herrscht ein wackliger Friede, der nun jedoch in Gefahr zu sein scheint.

Schnell hatten sich die Fans in spe über die offiziellen Foren und insbesondere über reddit zusammengefunden und die verfügbaren Informationen zu einer wackligen, vorläufigen Timeline geformt. Diese Timeline wurde im Laufe der Zeit um immer weitere Geschehnisse und Details erweitert; in Form von weiteren animierten Kurzfilmen, Comics, den sagenumwobenen Developer Updates mit Overwatch-Frontmann Jeff Kaplan („Wrestle with Jeff, prepare for death“) und der Vorstellung neuer Helden und Antihelden haben wir neue Informationen zur Welt von Overwatch erhalten. Das Besondere daran war, dass die Welt sich gemeinsam mit dem Spiel (das zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal veröffentlicht war) und der Fangemeinde dynamisch weiterentwickelt hat. Man erinnere sich beispielsweise an die Kontroverse um die weiblichen Charaktere in Overwatch, die alle ein bestimmtes westliches Schönheitsideal zu verkörpern schienen, und die bald darauf folgende Vorstellung von Zarya, der russischen Bodybuilderin, sowie später von Ana, der ersten Overwatch-Heldin im fortgeschrittenen Alter. Keine der neuen Charaktere oder Ereignisse haben sich jedoch falsch angefühlt, oder so als seien sie im Nachhinein auf Gedeih und Verderb in die bestehende Welt gezwängt worden, um einen weiteren überteuerten DLC verkaufen zu können. Dieser Umstand scheint trivial, obgleich es sicher keine leichte Aufgabe ist, eine narrative Welt zu erschaffen, die an allen Ecken und Enden Lücken aufweist, welche zu gegebener Zeit mit neuen Inhalten und Informationen gefüllt werden können. Diese nicht-lineare, kontinuierliche Form der Narration würde ich als den Übergang von einer einzelnen, in sich abgeschlossenen Story zu einer (für Interpration) offenen, erweiterbaren Storywelt beschreiben.

Was macht diese Storywelt aus? Einerseits fehlt der natürliche Exit-Punkt für den Spieler. Es gibt keine Kampagne, keine finale Cutscene, keine Credits nach dem letzten Bosskampf. Die Story kann niemals abgeschlossen sein, da es keine Story im ursprünglichen Sinne gibt. Vielmehr gibt es eine bunte, vielfältige Welt, in der sich eine Unzahl von Geschichten ereignen (können, werden), in die uns Blizzard mit jedem neuen Event, jedem neuen Helden und jeder neuen Spielumgebung einen neuen Blick gewährt. Hier geht es zu großen Teilen nicht nur um den reinen narrativen Inhalt, sondern vielmehr auch um das Gefühl, das man beim Spielen erhält. Wie bereits erwähnt, ist der Multiplayer kein Teil des Kanons. Aber beim Spielen fühlt man trotzdem eine starke Verbundenheit zu dem gesteuerten Helden und dessen Charakter (hier berufe ich mich zugegebenermaßen nicht auf wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse, vielmehr auf zahlreiche Berichte von Spielern in den entsprechenden Foren sowie nicht zuletzt meine eigene Erfahrung). Ob man nun die freche Pilotin Tracer, den friedvoll-gelassenen omnischen Mönch Zenyatta oder den wortwörtlichen Teufel (M̗͕̟̄̌͛e͔̦̳͈̥ͤ͗ͣ̋i̮̳̬̫͖̦̜) steuert, lässt man sich automatisch auch bis zu einem gewissen Grad auf deren Persönlichkeiten und Verhaltensweisen ein. Hier spielen narrative Hintergründe und Feinheiten hinsichtlich des Gameplays und der individuellen Fähigkeiten-Sets der Helden natürlich ineinander. Dadurch gewinnt man beim Spielen schnell den Eindruck, dass die ausgetragenen Gefechte von Bedeutung sind; auch wenn sie nicht zum Kanon gehören, könnten sie sich in dem offenen Universum von Overwatch so oder so ähnlich zugetragen haben. Dieser Eindruck verstärkt sich noch durch die mit Detailverliebtheit gestalteten Arenen und die zahlreichen Sprüche und Ausrufe der Helden (Voicelines), die einen tiefer ins Geschehen ziehen: Man folgt zwar keiner vorgegebenen Story oder Kampagne, aber man befindet sich zweifelsohne in der Spielwelt – man spielt Overwatch.



Interaktivität und Engagement

Dieses gesteigerte Involvement der Spieler in die Welt und die Charaktere von Overwatch hat sicher auch zu der gigantischen Masse von Fan-Kreationen beigetragen, die online verfügbar ist. Angefangen bei Play of the Game-Clips über Comics, Videos und Fanfics bis hin zu zweifelhaften Source Filmmaker-Szenen fügt die Fangemeinde täglich neue Werke zum Fundus der Overwatch-Fanart auf tumblr, reddit und Youtube hinzu. Interessant ist, dass diese Fanart bis zu einem gewissen Grad in Wechselwirkung zum Kanon und den offiziellen Spielinhalten steht.

Hier kratzen wir an einer übergeordneten Frage: Wer bestimmt den Kanon? Die naheliegende Annahme, dass der Autor die alleinige Hoheit über sein Werk besitzt, könnte durch Gegenargumente wie in der Fangemeinde vorherrschende Meinungen und Interpretationen in Frage gestellt werden (ich gehöre beispielsweise zu der wachsenden Gruppe von Harry Potter Fans, die J.K. Rowling nach The Cursed Child ihre Kanon-Schaffungs-Privilegien aberkennen möchten). Aber das Entwicklerteam bei Blizzard geht mit herausragender Offenheit und Aufgeschlossenheit an die Werke und Interpretationen der Fans heran, was solche Territorialkämpfe überflüssig macht. So z.B. die Auslegung von D.Va als Dorito-mampfender Gremlin und Soldier 76 als Dad 76, dem nicht nur sprichwörtlichen Vater seiner Overwatch-Familie. Diese haben über Event-Voicelines und Emotes wiederum Einzug in das Spiel selbst gefunden. Somit gesteht Blizzard den Fans eine Art Mitautorenschaft zu. Zurecht, möchte man meinen, denn was wäre ein Online-Spiel ohne seine Spieler? In einem der Developer Updates hat Jeff dieses Entgegenkommen in Worte gefasst:

Zitat:
This game absolutely belongs to you guys. I consider us just the custodians of Overwatch at this point. It is your world. 1




Wrestle with Jeff, Prepare for Death.



Fazit

Der kommunikative, kooperative Ansatz des Entwicklerteams von Overwatch, nach dem die Entwickler im ständigen Dialog und Austausch mit der Community stehen, scheint zu funktionieren: Mittlerweile über 30 Millionen Spieler haben sich in die Schlachten auf Hanamura, King's Row, Eichenwalde und den vielen weiteren Arenen gestürzt. 2 Ich bin der Meinung, dass man diesen Erfolg zumindest zum Teil der Offenheit und Interaktivität der Storywelt zuschreiben kann. Ob andere Entwickler aus dem dunklen Kämmerchen ans Tageslicht treten werden, um Entwicklungsprozesse und Spielinhalte mit den Fans zu kommunizieren und zu verhandeln, wird sich zeigen. Autoren und Entwickler können aus den narrativen Strukturen in Overwatch gewiss eine Menge lernen.


Was meint Ihr: Erforscht die Storywelt von Overwatch neue narrative Strukturen? Oder handelt es sich doch nur um perfides Marketing?



Kontaktadresse: gin-san@kingx.de

tl;dr: d.c.


1 Developer Update | Happy First Anniversary | Overwatch (PlayOverwatch). TC: 8:56
2 @PlayOverwatch auf Twitter

Dieser Beitrag wurde zuletzt bearbeitet: 24.06.2017 17:08 von Gin-Chan.

24.06.2017 17:02
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